8. Kapitel

 

Würdest du das bitte Angelica geben?«

»Natürlich. Ist es die Einladung von Isabelle?«

Als bekannt wurde, dass Prinzessin Angelica Kourakin die Auserwählte war und ein Kind von Alexander erwartete, hatte das ganze Volk der Vampire wochenlang gefeiert. Endlich war angebrochen, was alle sehnsüchtig erhofft hatten: ein neues Zeitalter.

Seit Jahrhunderten kämpften die Vampire um ihr Überleben. Obwohl sie mit vielen unglaublichen Fähigkeiten ausgestattet waren, konnten Vampirfrauen erst vom fünfhundertsten Lebensjahr an Kinder bekommen. Und nicht viele erlebten dieses hohe Alter. Die Selbstmordrate war hoch, Depressionen, Lebensüberdruss weit verbreitet - die Nebenwirkungen einer so langen Lebensspanne.

Düstere Zukunftsaussichten also.

Nur die stärksten, stabilsten Vampire wurden Clanoberhäupter, aber selbst sie hatten auf das Wahrwerden der Prophezeiung gehofft.

Und sie war wahr geworden. Die Auserwählten, Menschen, die mit Vampiren Kinder zeugen konnten, würden eine neue, gesegnete Spezies ins Leben rufen.

Angelica selbst war die Tochter einer Auserwählten und eines Vampirs. Sie war der Beginn dieser neuen Mischrasse, und sie und ihr Kind die Hoffnungsträger für die Zukunft.

»Ja. Der Westclan, Isabelles Leute, möchten die Auserwählte ebenfalls mit eigenen Augen sehen. Nicht jeder wird es schaffen, bei der Geburtszeremonie dabei zu sein«, antwortete Ismail.

»Ich werde ihr den Brief noch heute aushändigen, ich bin ohnehin auf dem Weg zu Angelica. Vermutlich wird Alexander mit ihr auch in dein Territorium reisen. Natürlich erst nach der Geburt.«

Ismail nickte und klopfte dann mit seinem Spazierstock an die Decke der Kutsche. Der Kutscher brachte sogleich die Pferde zum Stehen.

»Ich muss mich mit einigen Mitgliedern des House of Lords treffen. Wir sehen uns später.«

Ismail stieg aus, und Patrick blickte ihm lächelnd hinterher. »Bis später.«

Ismail schlug die Tür zu, und schon setzte die Kutsche sich wieder in Bewegung. Patrick schob den dicken Vorhang beiseite und schaute auf die vorbeiziehenden Häuser und Menschen hinaus. Als sie vor dem herrschaftlichen Anwesen der Kourakins stehen blieben, faltete er den Brief zusammen und schob ihn in seine Brusttasche. Patrick sprang aus der Kutsche und ging mit ausgreifenden Schritten auf die stilvolle Eingangstür zu. Er klopfte.

Nichts. Eine Minute verging. Patrick klopfte erneut.

Was war los? Wo waren Alexanders Dienstboten? Patrick probierte die Klinke, und zu seiner Überraschung ließ sich die Tür öffnen.

»Hallo? Angelica? Ist jemand da?«

Seine Stimme hallte in der großen Eingangsdiele.

Leises Klavierspiel drang an sein Ohr.

»Was zum Teufel...«, brummte er.

Angelica saß offenbar wieder einmal am Klavier. Das war nichts Neues, die Prinzessin war eine ausgezeichnete Pianistin.

Patrick schritt den breiten Gang entlang zu dem großen Raum, den Alexander nach der Hochzeit in ein Musikzimmer umgewandelt hatte. Dort fand er, was er suchte: eine Traube von Dienstboten drückte sich hingerissen vor der einen Spalt weit offen stehenden Tür herum. Hier waren sie also alle abgeblieben.

Patrick blieb belustigt hinter ihnen stehen und blickte über ihre Köpfe hinweg in den Saal. Den Konzertflügel konnte er nicht sehen, aber ein paar Sofas und Mikhail, der auf einem davon saß und der Musik lauschte.

»Ist was Besonderes?«, fragte er flüsternd ein Zimmermädchen.

»Nein, aber es ist wunderschön, nicht wahr? Das Klavier und dann noch die Geige. Heulen könnt' man, so schön ist es!«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen.

Geige?, dachte Patrick verblüfft. Aber er brauchte sich nicht lange zu wundern. Plötzlich erklangen die gefühlvollen Töne einer Geige, im Einklang mit dem Flügel, eine traurige, weiche, bezaubernde Melodie.

Wie im Traum setzte Patrick sich in Bewegung. Als die Dienstboten ihn sahen, wichen sie hastig zurück und machten ihm eine Gasse frei. Sein Blick fand sie wie Magnet, sobald er den Saal betreten hatte.

Violet. Er hatte sofort gewusst, dass sie es war. Niemand sonst spielte so wie sie. So traurig, so ergreifend. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, sich zu fragen, wieso sie hier war. Er machte noch einen Schritt in den Saal hinein, dann blieb er stehen, den Blick unverwandt auf sie gerichtet.

Sie hatte die Augen geschlossen, den Kopf zur Seite geneigt, und ihr schlanker Körper bog sich wie eine Weidenrute zum Takt der Musik. Das lange schwarze Haar hing ihr offen bis zu den Hüften, und in dem schlichten, hochgeschlossenen weißen Kleid wirkte ihre Haut regelrecht golden. Die blassgrüne Schärpe um ihre Taille würde das Grün ihrer Augen unterstreichen, sobald sie sie wieder öffnete. Das wusste er.

Was war es nur, das ihn so zu ihr hinzog? Er hatte mit seinen jetzt fünfhundertsechsundneunzig Jahren so viele Frauen gehabt, Hunderte, dass ihn diese eine eigentlich nicht so sehr hätte beeindrucken sollen. Was hatte sie, was den anderen fehlte?

Das Musikstück klang aus, die Zuhörer verharrten wie verzaubert: das größte Kompliment, das ein Musiker erhalten konnte.

»Na, du könntest wenigstens klatschen!«, beschwerte sich Angelica gut gelaunt und drehte sich zu ihrem Bruder um. Ihr Blick fiel auf Patrick.

»Patrick!«, rief sie erfreut aus.

Patrick riss seinen Blick widerwillig von der schönen Geigerin los.

»Prinzessin.« Patrick machte eine spöttische Verbeugung, und Angelica schnaubte verächtlich. Sie erhob sich und ging mit ausgestrecktem Arm auf ihn zu.

»Übertreib's nicht, alter Mann. Dieses ganze Prinzessinnen-Getue steigt ihr sonst noch zu Kopf«, rief Mikhail von seinem Sofa aus.

»Zu spät. Es ist mir bereits zu Kopf gestiegen!«, warf Angelica ihm über die Schulter zu. Sie hakte sich bei Patrick unter. »Komm, ich will dir unseren Gast vorstellen.«

Patrick ließ sich nur zu willig zu der Geigerin führen, die allerdings die Geige in der einen und den Bogen in der anderen Hand hielt. Keine Chance auf einen Handkuss also. War das Absicht? Sie schien ihm am Ende ihrer letzten Begegnung nicht allzu wohlgesonnen gewesen zu sein.

»Violet, das ist Patrick. Patrick, das ist Violet«, stellte die unkonventionelle Prinzessin die beiden einander vor. Ohne zu ahnen, dass sie sich bereits kannten.

»Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Violet.«

Sie hob ihre Braue, als sie dies hörte, und Patrick musste ein Lachen unterdrücken. Sie mochte offenbar keine Spielchen.

»Ganz meinerseits«, antwortete sie mit einem grüßenden Nicken.

Patricks Blick hing wie gebannt an der schönen Künstlerin, bis Angelica sich schließlich vernehmlich räusperte.

»Kommt, setzen wir uns doch«, forderte sie ihre beiden Gäste auf.

»Perfektes Timing, Schwesterherz, wie immer«, verkündete Mikhail. »Hier kommt der Tee. Ach, Violet, die Köchin hat extra die Kekse gebacken, die du so magst.«

Patrick folgte den beiden Frauen Stirnrunzelnd zu der Sitzgruppe. Mikhail duzte Violet? Und woher wusste er, welche Kekse sie mochte, verdammt noch mal?

»Stimmt was nicht?« fragte Angelica ihn  flüsternd während Mikhail und Violet entspannt zu plaudern begannen.

»Nein, wieso?«, antwortete Patrick in gleichgültigem Ton. Er ärgerte sich über sich selbst. Was kümmerte es ihn, wie gut oder wie schlecht sich die beiden verstanden? Aber dass man es ihm angemerkt hatte, wurmte ihn.

»Du sahst aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen.«

»Das bildest du dir bloß ein.« Dann sagte Patrick mit erhobener Stimme zu Violet, die sich immer noch angeregt mit Mikhail unterhielt: »Und, haben Sie seit unserer letzten Begegnung noch irgendwelche Nahtoderlebnisse gehabt?«

Mikhail verstummte wie vom Blitz getroffen, und Angelica sog erschrocken die Luft ein.

»Nein, aber es gibt sicher jede Menge Frauen in London, die sich zu gerne von Ihnen retten lassen würden, wenn Ihnen so viel daran liegt.«

Patrick beugte sich lachend vor. »Wenn diese Damen in Bedrängnis sich ebenso nett dafür bedanken wie Sie, dann hätte ich wahrhaftig nichts dagegen.«

»Eitler Gockel«, brummte Violet leise, aber Patrick hörte es dennoch. Er wollte gerade zu einer Retourkutsche ansetzen, um Violet noch mehr zu reizen, wurde jedoch von Angelica davon abgehalten.

»Patrick! Violet! Ihr kennt euch?«, rief sie frustriert und hielt Violet eine Tasse Tee hin.

»Ja, wir sind uns schon einmal begegnet. Ein unvergessliches Erlebnis, nicht wahr, Violet?«, bemerkte Patrick. Er wusste selbst nicht, warum es ihm solchen Spaß machte, Violet zu reizen.

»Ich glaube, sie will keinen Tee, Angelica«, bemerkte Mikhail, als er sah, dass Violet keine Anstalten machte, die angebotene Teetasse anzunehmen.

Zu Patricks Erstaunen war es Angelica, die rot wurde und Entschuldigungen zu stammeln begann.

»Entschuldige vielmals, Violet, ich vergesse einfach immer, dass du... ich meine... ich wollte dich nicht...«

Patrick merkte, dass Mikhail wohl ebenso verwirrt drein- blickte wie er selber. Violet jedoch wirkte unerschüttert.

»Das macht doch nichts, Angelica, es ist nicht direkt ein Geheimnis.« Violet beugte sich vor und nahm vorsichtig die angebotene Tasse.

»Wovon redet ihr?«, fragte Mikhail verblüfft. »Wenn es kein Geheimnis ist, dann verratet es uns doch, bitte!« Mikhail stellte seine halb leer getrunkene Tasse Tee auf dem Sofatisch ab und lehnte sich erwartungsvoll zurück.

Patrick dagegen starrte Violet aus verengten Augen an. Die Art, wie sie die Tasse hielt, wie sie sie an die Lippen hob... warum hatte er es nicht gleich gemerkt?

»Ich kann nichts sehen«, erklärte Violet so schlicht, dass Mikhail sie nur sprachlos anstarren konnte.

»Was meinst du?«, fragte er fassungslos.

»Genau das, was sie gesagt hat«, sagte Angelica.

Mikhail erholte sich rasch von seinem Schock, und plötzlich erhellte ein breites Grinsen seine Züge. »He, Patrick, sieht so aus, als hätte ich in diesem Fall sämtliche Chancen auf meiner Seite!«

Violets Lachen erfüllte den Raum, doch Patrick erwiderte nichts. Seine Gedanken rasten. Er rief sich den Vorfall im Zirkus noch einmal ins Gedächtnis, bloß dass er diesmal ihre Blindheit mit einkalkulierte.

»Wieso?«, fragte Violet Mikhail.

»Normalerweise kriegt Patrick alle Damen, weil er so gut aussieht«, erklärte Mikhail. »Aber an Charme kann er's nicht mit mir aufnehmen. Ich kann also damit rechnen, dass du bald in meine Arme sinkst!«

Beide Frauen lachten, doch Patrick schwieg immer noch und beobachtete sie.

»Nicht, dass ich hässlich wäre, im Gegenteil«, versicherte Mikhail hastig.

»Das reicht, Mikhail!«, rief Angelica ihren Bruder liebevoll zur Ordnung. »Du wirst Violet noch Angst einjagen.«

»Er macht mir keine Angst, und das sage ich nur deshalb, weil ich jetzt gehen muss und nicht will, dass er sich wer weiß was einbildet.« Violet lächelte.

Zum Erstaunen der Versammelten erhob sich auch Patrick. »Ich werde Sie hinbringen, wo immer Sie möchten.«

»Das brauchst du nicht, Patrick, mein Kutscher kann Violet nach Hause fahren«, widersprach Angelica, doch Patrick schüttelte den Kopf. Er hatte bemerkt, wie Violets Atem bei seinem Vorschlag stockte, und nahm das als gutes Omen.

»Es macht mir keine Mühe. Kommen Sie, Violet?«

 

 

Unsterblichen 02 -Unsterblich wie ein Kuss-neu-ok-27.01.12
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